Ex-Milchbauer auf der Anklagebank
Der Angeklagte sieht ein bisschen aus wie Boris Johnson, der britische Außenminister, in dunkelblond. Leicht verstrubbelt und unrasiert, in Jeans und kariertem Hemd, so sitzt der Landwirt am 25. September 2017 vor dem Richter des Berufungsgerichtes in Itzehoe. Es geht um seine Kuh mit der Ohrmarkennummer DE 01 143 91470, dieses Tier ist eindeutig seinem Bestand zuzuordnen. Eines ihrer Hörner ist ihr Millimeter für Millimeter ins Gehirn gewachsen, weil es nicht rechtzeitig gekürzt wurde. „Diese schwarzbunte Milchkuh hat über Jahre erhebliche Kopfschmerzen erlitten, während sie den fortwährenden, zunehmenden Druck ihres Horns aushalten musste, bis ihr der Schädel platzte,“ erklärt die Sachverständige Martina Hoedemaker, von der Tierärztlichen Hochschule Klinik für Rinder in Hannover, dem Gericht. „Kühe leiden leise,“ sagt sie weiter, „sie ziehen sich zurück und verlieren so ihren Platz in der Rangliste der Herde.“ Dadurch kämen sie schlechter an Futter und Wasser heran, weswegen man solche Tiere in einer Extra-Bucht im Stall unterbringe. Das sei hier aber wohl nicht geschehen.
Alarmiert durch die auffällig hohe Kälbersterblichkeitsrate auf dem Milch- und Mastviehhof, sowie wiederholte Hinweise von besorgten Nachbarn des Angeklagten, reagieren die Behörden am 17. September 2013 mit einer Betriebskontrolle. Sie finden ein Desaster vor: Etwa die Hälfte der damals 1092 Tiere umfassenden Herde ist halb verhungert. Festliegende und lahmende Kühe, Kälber auf zu großen Spaltenböden stehen eingeklemmt in nasser, alter Einstreu fest. Die Kuh mit der Ohrmarkennummer DE 01 143 91470 liegt auf dem Kadaverplatz, neben einer stark abgemagerten Kuh mit Kindskopf großen Liegestellen und ein paar verendeten Kälbern. Amtsveterinärin Christine Bothmann erzählt dem Richter sie habe Löcher in den Augen der Tiere gesehen. Vermutlich habe der Angeklagte sie mit der Waffe erlöst, er sei ja auch Jäger, meint sie. Das ist zwar verboten, aber Bothmann unternimmt in dieser Hinsicht nichts. Sie lässt nur die Tiere von der TBA, der Tierkörperbeseitigungsanstalt, abholen. Die Ohrmarkennummern werden mit dem Vermerk „VE“, für verendet, aus der Rinder-Datenbank des Landwirtes ausgetragen.
Im Anschluss an die Kontrolle verhängt die Behörde ein Ordnungsverfahren über den Dithmarscher Bauern. Darauf passiert offiziell nichts. 15 Monate lang sind Rinder, Kühe und Kälber unterversorgt und stehen weiter knietief in ihren eigenen Exkrementen, bis zur Razzia am 15./16.Dezember 2014. Ein Großaufgebot von Polizei, Staatsanwaltschaft, Ordnungsamt und Amtsveterinären, inklusive Frau Dr. Bothmann etwa 40 Ermittler, durchsucht den Betrieb zwei Tage lang gründlich. Die Herde ist um 300 Rinder geschrumpft und dennoch war der Landwirt wohl stark überfordert. Viele der 700 Tiere auf dem Hof in Süderheistedt sind wieder erschreckend abgemagert. Fünf Tiere werden sofort eingeschläfert, 47 Tiere untersucht und behandelt, und 51 Tiere sind in der Zeit des Ordnungsverfahrens einfach verschwunden. Sie sind nur noch als „VNN“, Verbleib nicht nachweisbar, in der Hit-Datenbank des Tierhalters zu finden. Das käme schon mal vor, meint der zuständige Amtsveterinär, Dr. Klaus Hartwig vom Veterinäramt Heide. „Im Fall des Angeklagten war die VNN-Rate verhältnismäßig hoch, was sicher auch auf grundsätzliche Probleme mit der Dokumentation zurückzuführen ist“, sagt er. Daran kann es jedoch nicht liegen, denn wie ein Sprecher des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung BMEL erklärt, „VNN“ in HIT könne nur die Regionalstelle in Zusammenarbeit mit der zuständigen Veterinärbehörde eintragen, der Landwirt selbst nicht.
Seit dem 26. September 1999 muss in Deutschland jede Geburt eines Rindes, jeder Zu- und Abgang innerhalb von sieben Tagen in die HIT-Datenbank eingetragen werden. Die Rinderdatenbank wurde Ende der neunziger Jahre als Reaktion auf Rinderwahn (BSE) und Maul- und-Klauenseuche eingeführt. Das Herkunftssicherungs- und Informationssystem für Tiere, kurz HIT, mit Meldepflicht zur lückenlosen Rückverfolgbarkeit von Tieren, sollte den verunsicherten Konsumenten wieder Appetit aufs Rindfleisch machen. Das System funktioniert wie Perlen an einer Schnur, wenn alle die Regeln befolgen.
Nach der Razzia, kurz vor Weihnachten 2014, wird dem Landwirt vom Amt Eider ein Tierhalte Verbot erteilt. Er muss seinen Bestand auflösen. Bis Juli 2015 sind die Weiden mit Hilfe der Behörden leergeräumt. Dabei verschwinden erneut über 30 Tiere als „VNN“.
Matthias Wolfschmidt, von foodwatch wundert das nicht: „Meldeversäumnisse und Meldefehler sind schon deshalb plausibel, weil unterschiedliche Personenkreise meldepflichtig sind (Tierhalter, Viehhändler, Schlachthöfe…) und die Richtigkeit der Angaben somit vom vollständigen Funktionieren der gesamten Meldekette abhängig ist.“
Bundesweit verschwinden laut BMEL, dem Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung, Tiere als „VNN“, aber das Ausmaß sei sehr gering. Das kann aber weder die zentrale Verwaltungsstelle der Hit-Daten in Bayern, noch das BMEL belegen. Edmund Haferbeck, Leiter der Rechtsabteilung der Tierschutzorganisation Peta, findet die Kontrollmechanismen in der agrarindustriellen Tierproduktion grundsätzlich fragwürdig: „HIT-Datenbanken, brancheneigene Kontrollen – nichts funktioniert. Tiere verschwinden, Transparenz ist eine Farce.“
Matthias Wolfschmidt von foodwatch: „Da die Ergebnisse der Stichprobenuntersuchungen sowie die ergriffenen Sanktionen nicht veröffentlicht werden, lassen sich weder das Ausmaß der Falschmeldungen abschätzen noch mögliche Ursachen einschließlich betrügerischer Motive ausschließen.“
Für die Aussage der Gutachterin vom 25.September 2017 stellte der Verteidiger am letzten Freitag vor Gericht einen Befangenheitsantrag. Der Prozess geht am 3.November weiter.
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