Erklärt Jury Chef Marcus Peichl die Qualität der aktuellen Visual Leader Ausstellung in den Deichtorhallen: „Wir haben es mit einer neuen Ernsthaftigkeit zu tun, in der die Bildsprache nicht mehr nur originell genutzt wird, wie noch vor fünf, sechs Jahren.“ Eine Schwere zöge durch alle Bereiche, die sich am deutlichsten in der Reportage
zeige. Peichl sieht darin eine Renaissance der Reportage. Ingo Taubhorn fürchtet um die Errungenschaften der Demokratie, die durch die Zunahme der Rechtspopulisten, ohne die Aufklärung der Medien, ernstlich in Gefahr gerate. Die gesamte Ausstellung sei gezeichnet von den schweren Ereignissen der vergangenen Monate: die Flüchtlingskrise, die Attentate in Paris, die Silvesternacht in Köln, die Panama Papers, der NSU-Prozess, den Auswirkungen des Klimawandels uam. . Die großen Krisen und Verwerfungen der
Welt finden in allen Bereichen die entsprechende sorgfältige und moralisch sensible Betrachtung: Bilder von der Völkerwanderung quer durch ganz Europa, den Flüchtlingen auf ihrem beschwerlichen Weg genauso, wie Fotos von den Strassen Amerikas, die das Wiederaufkeimen des Rassenkonfliktes erahnen lassen. Die Ausstellung bietet auch die Chance, in unserer schnelllebigen Zeit, inne zu halten und diese schlimmen Szenarien noch einmal in Ruhe Revue passieren zu lassen.
Alle Print-Medien haben den Ernst der Lage erkannt, sie verantwortungsbewusst gespiegelt und sich den ganz speziellen Herausforderungen zum Teil auch sehr individuell gestellt. So hat die Bildzeitung auf die Kritik über die Darstellung des toten Jungen am Strand mit einem schwarzen Titel reagiert. Die Freie Presse Chemnitz hat nur die Umrandung des Fotos gezeigt, und die Begründung dafür eben da hinein geschrieben.
Das Zeit-Magazin hat die Familie des Jungen besucht und darüber berichtet. Über das Foto mit dem Jungen hätten sie in der Jury lange diskutiert, fügt Peichl noch hinzu, sich dann aber doch dafür entschieden, weil es die dramatischen Hintergründe dieser Zeit so stark veranschauliche und ganz entscheidend dafür sprach seine Wirkungsmacht: die fast beiläufige Art wie der Junge am Strand läge, angeschwemmt wie Strandgut… .
Die Kraft dieses Bildes als Resultat einer Situation hätte die Wahrnehmung verändert was das Leid der Flüchtlinge anginge. Es habe starke Reaktionen ausgelöst und die Macht und Wirkung von Fotos im Print wie kaum ein anderes verdeutlicht. Auf die Frage, ob das Foto gestellt sei – erwiderte Peichl, es deute eher alles daraufhin, dass es authentisch sei. Ihn störe noch immer ein wenig die Arroganz mancher Medien, aber alle hätten die schwierigen Zeiten faktisch sehr korrekt dargestellt, aufmerksam und handwerklich seriös. Peichl erwähnte auch die wirtschaftlich schwierigen Zeiten der Medien-Branche. Unter diesem Aspekt sei es umso bewundernswerter mit wie viel Kreativität und Einsatz, neben dem Tagesgeschäft, noch tolle Geschichten produziert würden, z.B. die Langzeitreportagen. Erstmalig ist auch die „taz“ dabei, die die
Jury auch mit ihrer enormen Widerstandskraft und Vorreiterrolle im neuen Umgang mit dem Leser bestach. Peichl kümmert sich seit 25 Jahren um die Lead Awards. Es werden dabei immer aus 450 vorausgewählten Titeln, insgesamt gibt es in Deutschland 2100, der letzten 12 Monate, die besten ausgewählt von einer unabhängigen Jury, einem versierten Fachgremium. Es ist ein reiner Print- und online-Award, aber inzwischen gibt es 5 Kategorien: Magazinstrecken, Foto-Reportagen, Websites,
Werbekampagnen und Zeitungsbeiträge. Die Visual Leader zeigen die Welt wie sie ist, wie sie scheint und wie sie sein könnte. Alle Nominierten, also die nähere Auswahl für den Gold, Silber und Bronze Award in der jeweiligen Kategorie, zeigt die Ausstellung; am 10. Oktober werden dazu die jeweiligen Gewinner bekannt gegeben. „Ich wollte die Publizistik sinnlich erlebbar machen mit den Awards, sagt Peichl, „das ist gelungen, sie ist jetzt besser besucht als viele Titel Auflage machen,“ strahlt Peichl stolz. „Angesichts der massiven Häufung von Katastrophen, wünscht man sich dass das nur eine Folge der Übertreibung und Hysterie des Internetzeitalters ist,“ sagt Peichl, „aber erfahrungsgemäß bilden wir hier genau das ab was die Gesellschaft gerade ausmacht.“
Es sei in dieser kurzlebigen Zeit auch eine gut Sehschule, ergänzt Taubhorn. Immer mehr Schulen kämen vorbei um die Ereignisse des Jahres noch einmal zu sehen und noch einmal ausgiebiger darüber zu reden.
Visual Leader Awards in den Deichtorhallen 27.8. bis 30.10.2016
Beitragsfoto zeigt das traurige Foto des Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum in der Türkei; erschienen im Focus, im Spiegel und im Stern – mögliches Foto des Jahres
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